Blätter. Eine Begehung

von Maria Christine Holter

Didi Sattmann ist als Fotokünstler und -dokumentarist ein Fixstern der österreichischen Kunst- und Kulturlandschaft. Mit seinen unvergleichlichen Fotoporträts aus eben dieser Szene prägte er ab den 1980er-Jahren das Bild des nationalen Kunstgeschehens im internationalen Kontext bedeutend mit. Seine prominenten Künstler*innen-Porträts fanden in zahlreichen Ausstellungen und repräsentativen Bildbänden ihren Niederschlag. Nicht erst seit Wien Aussen 2013 im Wien Museum ist Sattmann zudem einer interessierten Öffentlichkeit als Wiener Stadtporträtist ein Begriff. Weniger bekannt sind hingegen seine konzeptuellen, auszugsweise von selbstreflexiven Texten begleiteten Fotoserien. Mit der Untersuchung der Reihe Blätter, die den Challenges – titelgebender Überbegriff für einen sich seit 2011 fortschreibenden, verästelten Werkstrang – erwachsen ist, soll ein neues Kapitel hinsichtlich der Betrachtung des vielschichtigen konzeptuellen Oeuvres von Didi Sattmann aufgeschlagen werden.

Während in Zeugnissen des Künstlers die Freude und wohl auch Neugierde an der „Begegnung“ mit dem jeweiligen menschlichen Gegenüber in seiner fotografischen Arbeit hervorgehoben wird, stellen sich die Challenges – Aufnahmen von achtlos auf den Boden geworfenen, gefallenen oder zufällig zu liegen gekommenen Gegenständen – als Früchte einer „Begehung“ dar.

Schon lange vor dem Einsetzen der allerorts zu beobachtenden „Covid-Spaziergänge“ war Didi Sattmann ein passionierter, stets mit einer leichten Nikon-Reportagekamera ausgerüsteter Begeher der (Stadt)Landschaft. Mit der Entwicklung technisch hochwertiger Mobiltelefonkameras erschloss sich für Sattmann im Zuge von Challenges und parallel laufender Serien die Möglichkeit zur qualitätvollen Handyfotografie: „… Ich höre ja nur 5 Prozent“, gibt der seit seiner Kindheit schwer hörbeeinträchtigte Künstler im Gespräch preis, „wahrscheinlich ist deshalb für mich das Sehen umso wichtiger. Ich geh‘ mit der Handykamera herum und schau‘ auf den Boden, da entdeckt man die unglaublichsten Sachen.“ Dieses allezeit verfügbare, die Spontaneität und auch Bequemlichkeit bedienende Massenmedium hat sich als beliebtes Tool mittlerweile fest in den Kanon der künstlerischen Gegenwartsfotografie eingeschrieben. Neben der digitalen Bildproduktion zieht Sattmann nun auch die digitale, jedoch sparsam eingesetzte Bearbeitung am eigenen Computer der langjährigen, mühsamen und letztlich „auch wegen der vielen Chemikalien“ ungeliebten Arbeit in der Dunkelkammer vor – ein für viele vielleicht überraschendes Eingeständnis des 1951 in Admont geborenen, viele Jahre zwischen Wien und Niederösterreich pendelnden und nun gänzlich mit seiner Familie im Weinviertel lebenden Kunstschaffenden.

Was macht – neben der Tatsache, dass es sich bei den Fotografien der Serie Challenges um vielfältig veränder- und reproduzierbare Datenmengen aus dem Mobiltelefon handelt – deren  inhaltliche und gestalterische Besonderheit aus?

Augenscheinlich ist das Individuum, das Sattmann über Jahrzehnte ein so wichtiger Bezugspunkt gewesen war, aus den Bildern verschwunden; oder, exakt ausgedrückt, vordergründig verschwunden. Denn der Mensch und seine sorglosen, mitunter nachhaltig zerstörerischen Verhaltensweisen sind in den Sujets der am Boden befindlichen Objekte sehr wohl präsent: technische Relikte, wie Schrauben, Muttern, Kabelteile; berührende, wie eine kleine Stoffblume, die sich möglicherweise vom Haarreifen eines Kleinkindes gelöst hat oder ein durch Überfahren plattgedrücktes Reptil; ärgerlich stimmende, wie die allgegenwärtigen Verschmutzungen durch fallengelassene „Papierln“ oder Zigarettenstummel (denen poetischerweise bisweilen noch Lippenstiftreste anhaften); und aus heutiger, mit ökologischem Wissen ausgestatteter Sicht die verstörendsten, das omnipräsente Plastik – vielgestaltig, buntfarbig, opak oder transparent, oft bis zur Unkenntlichkeit zerrieben, sodass sich nur mehr rätseln lässt, um welchen Kunststoffgegenstand es sich bei dem fotografisch aufgenommenen Fragment gehandelt haben mag.

Diese beim alltäglichen Gehen, in direkter Aufsicht fotografierten Porträts der unbeachteten Dinge haben in den Challenges dem Menschen als gewohntem Mittelpunkt der künstlerischen Darstellung in der abendländischen Kunstgeschichte den Rang abgelaufen – was, am wahrscheinlichen Ausgang des Anthropozäns, nicht nur formal sondern auch inhaltlich stimmig scheint. Viel Menschengemachtes, das Didi Sattmann hier in den Fokus nimmt und damit unserer Aufmerksamkeit näher bringt, wird uns Hier- und Jetzt-Lebende als archäologische Besonderheit oder schlichtweg als die Umwelt vergiftender Müll überdauern.

Zur Würdigung der unscheinbaren dinglichen Welt gesellt sich im Narrativ der Challenges als weiterer Hauptprotagonist der versiegelte Boden [1], vor allem in dessen aktuellstem Unterkapitel Blätter. Selten wurde Asphalt durch Fotografie so vielgestaltig dargestellt, die unterschiedlichen Farben und Strukturen der je nach Lichteinfall verführerisch glitzernden oder dumpf abgeriebenen Konglomerate dieses städtebaulichen Verbundstoffes so deutlich zum Zentrum der Betrachtung gemacht, wie in dieser Bildreihe. Was im realen Raum als bloßer Träger für herabgefallenes Laub fungiert und in den meisten Fällen nebensächlicher „Hinter-Grund“ bleibt, tritt im Bildraum der Blätter mit der von der Jahreszeit bunt eingefärbten, der Witterung und dem Verkehr heftig malträtierten Vegetation in starke Konkurrenz: Der Hintergrund (Asphalt) steht dem Vordergrund (Blatt) an ästhetischer Inszenierung um nichts nach. In einigen Fotografien durchdringen die beiden einander auf berückend schöne, emotional bewegende Weise. Die Natur diffundiert in deren Versiegelung hinein. Asphaltierte Plätze, Straßen, Gehwege, Hauseinfahrten oder betonierte Gartenpfade werden zum „Haupt-Grund“, sie fressen sich in die Landschaft hinein wie nimmersatte Raupen. Das zart gewachsene Blatt gerät in den Hintergrund –  es kann in diesem unfairen, vom Menschen vorangetriebenen Wettkampf nicht gewinnen.

In Didi Sattmanns bislang noch nie in Ausstellungen gezeigten und nur in Einzelfällen veröffentlichten Bildern der Serie Blätter bzw. Challenges sind indes nicht allein formal-ästhetische oder emotionale Kriterien bei der Bilderstellung ausschlaggebend, vielmehr ein waches gesellschaftspolitisches Bewusstsein und das aus der inneren Notwendigkeit resultierende künstlerische und persönliche Agieren. Sattmann ist längst vor der von Greta Thunberg angestoßenen „Fridays for Future“-Bewegung und der von der Wissenschaft eingemahnten Faktenlage des fortschreitenden Klimawandels zum ökologischen Nachdenken gekommen; es wurde ihm quasi durch den Beruf des Vaters als Forstingenieur und sein Aufwachsen im steirischen Gesäuse in die Wiege gelegt, später sein eigenes Interesse für Umweltbelange noch durch die naturwissenschaftliche Karriere seines Bruders befeuert.

Auslöser, diese Thematik auch in seine Kunst einfließen zu lassen, war für Sattmann ein skandalös verharmlosender Medienbericht zur Opferzahl des Reaktorunglücks von Fukushima. Er erinnert sich (noch immer erregt): „Mit meinen Arbeiten zum achtsamen, fürsorglichen Umgang mit unserer Erde, mit unseren Ressourcen und mit uns selbst (!) habe ich ungefähr 2010 begonnen. Die erste fotografische Arbeit war eine zur Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011, wozu ein prominenter Kernphysiker in einem Qualitätsmedium urteilte: ,Glücklicherweise sind durch den Reaktorunfall keine Menschen zu Schaden gekommen.‘ Unglaublich!“

 

In besagtem Foto mit dem Titel „Glücklicherweise …“ zeigt die Blattspitze des unnatürlich pink verfärbten Blattes wie ein Fallbeil nach unten, die herabperlenden Tautropfen erinnern an dicke Tränen. Mit einer übersteigernden farblichen Nachbearbeitung verweist der Künstler auf die „kranken“ Veränderungen unserer Umwelt, der Titel auf den vernichtenden Sarkasmus mit dem vom Menschen verursachte Katastrophen und deren Folgen bagatellisiert werden. Zugleich, und das wird in der Weiterentwicklung dieser älteren Fotografie in der aktuellen Serie Blätter zum Thema „Flächenfraß“ manifest, mutiert das verwelkte Laub für Sattmann zum Hoffnungsträger; stehen doch die zarten Blätter unterschiedlichster Gewächse senkrecht gerade wie kleine unerschütterliche Bäume, die allen Widrigkeiten standhalten, als pars pro toto. Wir müssen ihnen dabei zur Seite stehen!

Nachsatz

„Die Säulen meiner gesamten fotografischen Arbeit sind einerseits ,Fotografieren ist Begegnung‘ und andererseits ,Hinblicken statt wegschauen!‘“, resümiert Didi in unserem Gespräch, das am 11. Juni 2021 im artenreichen Garten, später vor den beiden großen Monitoren seines PCs und abschließend im bis unter die Decke mit seiner Kunst gefüllten Dachboden des Hauses im Weinviertel stattgefunden hat. Herzliche Begegnung und genaues Hinschauen – Erinnerungen an beides nehme ich für diesen Text mit.

 

[1] Aktuelle Zahlen und Fakten zum Bodenverbrauch in Österreich:

Pro Tag gingen österreichweit im Durchschnitt der letzten drei Jahre 11,5 Hektar an Böden durch Verbauung für Siedlungen und Verkehr, aber auch für Erholungsnutzungen, Deponien, Abbauflächen oder Kraftwerke verloren [Anm. Holter: Das kommt einem Flächenfraß von täglich 16 UEFA-anerkannten Fußballfeldern gleich]. In Österreich wurden bis zum Jahr 2020 insgesamt 5.768 km² produktiver Böden verbraucht. Das entspricht 7% der Landesfläche und 18% des Dauersiedlungsraumes. 2020 wurden 39 km² neu beansprucht. In den vergangenen drei Jahren wurden in Österreich zwischen 41% und 42% der neu in Anspruch genommenen Flächen auch versiegelt. Das sind rund 15-20 km2 pro Jahr, die dauerhaft verloren gehen, weil der Boden mit einer wasserundurchlässigen Schicht abgedeckt, also bebaut, betoniert, asphaltiert oder gepflastert ist. Damit kann der Boden wichtige Funktionen, wie die Fähigkeit Wasser zu speichern und zu verdunsten, Schadstoffe zu filtern und Kohlenstoff zu binden, nicht mehr erfüllen.

(Quelle: Umweltbundesamt https://www.umweltbundesamt.at/news210624 Stand: 12.07.2021)